THE GHOST ON THE HORIZON
„HALF-WAY down a by-street of one of our New England towns, stands a rusty wooden house, with seven acutely peaked gables, facing towards various points of the compass, and a huge, clustered chimney in the midst. The street is Pyncheon street; the house is the old Pyncheon-house; and an elm-tree, of wide circumference, rooted before the door, is familiar to every town-born child by the title of the Pyncheon-elm.“
Mit diesem establishing shot beginnt Nathaniel Hawthornes 1851 erschienene Erzählung „The house of seven gables“. Um dieses Haus rankt sich die von Schuld und Sühne bestimmte Geschichte der Familie Pyncheon (und es paßt nicht übel zu diesem zunächst etwas schief erscheinenden Zufahrtsweg zu meinem Text, daß aus jener historischen Ostküsten-Familie später auch der große Trickster der literarischen Postmoderne, Thomas Pynchon, hervorgehen sollte), die Hawthorne als Vehikel für die moralische These dient, daß die schlechten Taten einer Generation sich auch in den folgenden Generationen fortsetzen. Bemerkenswert an Hawthornes Roman ist die Schlüsselrolle, die der jungen Daguerrotypist Holgrave spielt – wie sich herausstellt Nachfahre des Opfers jenes Verbrechens, das am Anfang der schuldhaften Verstrickungen der Pyncheons stand. Die Daguerrotypie, eine Frühform der Photographie, wird an verschiedenen Stellen in offensichtlich metaphorischer Absicht diskutiert, so wenn die junge Phoebe Pyncheon Holgraves Angebot, seine Arbeiten zu betrachten, abschlägt: „I don’t much like pictures of that sort – they are so hard and stern; besides dodging away from the eye, and trying to escape altogether.“ In Phoebes naiver Ablehnung des neuen Mediums finden zwei zentrale medientheoretische Argumente des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts gewissermaßen dialektisch zusammen: zum einen dasjenige, das den direkten, ungebrochenen, objektiven Zugriff der Photographie auf die äußere Wirklichkeit ins Zentrum stellt, und zum anderen jenes, das den schöpferischen, konstruktiven, letztlich willkürlichen bzw. künstlerischen Aspekt des neuen Mediums betont.
Holgrave treibt in seiner Entgegnung die Dialektik sogar noch weiter (und damit beinahe zur Synthese), indem er Phoebe (i.e.: die Leuchtende!) als Exempel ein daguerrotypisches Porträt des Schurken der Fabel vorlegt, der zu diesem Zeitpunkt freilich noch als gütiger Bürger von untadeligem Ruf gilt. Er eröffnet sein Argument mit Hinweis auf das Sonnenlicht, das hier metonymisch für den der Photographie zugrunde liegenden, objektiven, physikalisch-chemischen Prozeß verstanden werden darf: „The sun, as you see, tells quite another story, and will not be coaxed out of it (…). Here we have the man, sly, subtle, hard, imperious, and, withal, cold as ice. Look at that eye! Would you like to be at its mercy? At that mouth! Could it ever smile? And yet, if you could only see the benign smile of the original!“ Für Holgrave bildet die Fotografie nicht nur die äußere Wirklichkeit ab, sondern vielmehr eine eigene, tiefere und „wahrere“ Wirklichkeit, die der ersteren letztlich sogar überlegen ist. (Zu dieser tendenziell metaphysischen Ontologie des Mediums passen übrigens auch die Hypnosefähigkeiten, mit denen Hawthorne seinen Daguerrotypisten ausgestattet hat.)
Um diese Doppelmächtigkeit des Mediums, einerseits die äußere Wirklichkeit präzise abzubilden, andererseits eine weitere, sonst verborgene Dimension hinter der Wirklichkeit zu eröffnen, geht es im Prinzip auch in den Fotografien von Ursula Paletta, die stille, isolierte Figuren in an sich unspektakulären Räumen inszeniert, welche aber in dieser Darstellung eine tendenziell unwirkliche und oftmals poetische Qualität gewinnen. Ausgangspunkt ist ihr dabei stets der Raum – das heißt: ein konkreter, vorhandener Raum, der sie zunächst einfach interessiert. Meist handelt es sich um durchaus alltägliche, gewöhnliche Räume und Orte, die jedem aus eigener Anschauung und Nutzung vertraut sind: eine Tiefgarage, ein Dachboden, ein ganz normales Kino… Aus dem Anfangsinteresse erwächst eine Phase des Suchens und Ausprobierens, in der erste Bilder gemacht werden, mit unterschiedlichen Blickwinkeln und Ausschnitten experimentiert und untersucht wird, wie die im Raum vorhandenen Lichtverhältnisse im Bild wirken, vor allem aber: wie sich bei all dem auch der Raum verändert (als würde der Raum, mit so viel Aufmerksamkeit bedacht, endlich aus seinem Nichtbeachtungsschlaf erwachen und zu einer besseren oder richtigeren Version von sich selbst werden). Auch in Bezug auf ihre ProtagonistInnen geht die Fotografin viel vom Vorhandenen aus, arbeitet mit den Gegebenheiten, neugierig, suchend, herumprobierend, sei es mit Kleidungsstücken, mit Perspektiven, oder etwa mit eigenen, eigentümlichen Gesten und Haltungen der Modelle, die sie noch in vermeintlich unbeobachteten Momenten präzise im Auge behält. Immer auch auf der Suche nach Körperhaltungen, die vielleicht in einer spezifischen Weise dem Raum entsprechen, ihn – oder Teile, Aspekte davon – akzentuieren, kommentieren, konterkarieren können (dabei stets fragend: wie verändert nun das wieder den Raum selbst?). Das endgültige Bild, das aus all diesen vorgeschalteten Operationen und Abwägungen hervorgeht, ist ein Konzentrat: während Paletta früher in Serien arbeitete geht es heute ausdrücklich darum, alle die genannten Momente in einem einzigen Bild zu verdichten, so lange zu probieren, bis wirklich alles, was an dem Raum, an der Situation interessiert, auf den Punkt kommt.
Eine wichtige Rolle spielt in den Bildern also unzweifelhaft das, was empirisch, objektiv da ist, bzw. aus der Perspektive des Betrachters der Bilder: was da war („Hard and stern“, wie Phoebe Pyncheon es ausdrückte). Auch abgesehen vom offensichtlich Inszenierten und Gestellten sind die Bilder voll von akribisch registrierten Details und Nebensachen, die auf den großen Abzügen eine Präsenz und Dringlichkeit erhalten, die sie im realen Raum kaum hatten. Angesichts dieser stets auch dokumentarischen Dimension von Palettas Bildern mag man schon an Andreas Feiningers Diktum denken, eine Fotografie sei „von Natur aus eine ‚Garantie‘ dafür, daß sie eine grundsätzlich ‚wahre‘ Nachricht überbringt – die Kamera muß ein Augenzeuge des dargestellten Geschehens gewesen sein.“ Roland Barthes erhob dieses Amalgam aus Realität und Vergangenheit bekanntermaßen gar zum Noema (d.h. Erkenntnisinhalt) des Mediums Fotografie: „Es-ist-so-gewesen„. So weit möchte man hier aber doch nicht zustimmen. Diesen Aspekt überzustrapazieren würde bedeuten, einen anderen, wichtigeren zu vernachlässigen. Denn es ist schließlich ebenfalls sehr charakteristisch, wie Ursula Palettas Fotografien, trotz ihrer Sättigung mit äußerer Wirklichkeit und trotz ihrer rein analogen Natur (d.h. obwohl die festgehaltenen Situationen stets durch den „objektiven“ physikalisch-chemischen Prozeß mit dem am Ende stehenden Bild verknüpft sind, ohne digitale Nachbearbeitung) sämtlich derartig unwirklich wirken.
Die Künstlerin schreibt dazu: „In meinen Arbeiten suche ich Bilder zu entwickeln, in denen sich die Zeit- und Raumdimension der Wirklichkeit auflöst und in denen ein Raum entsteht, von dem aus die feste, erklärbare Welt und somit auch die eigene Identität in Frage gestellt wird.“ Daß sie dieses Ziel erreicht, sollte beim Betrachten der Arbeiten evident sein. Interessant erscheint indes die Frage, wie ihr dies gelingt, und warum ihr dies gelingen kann. Die Antwort hat möglicherweise mit dem zu tun, was ich eingangs – bezogen auf Hawthorne – die „tendenziell metaphysische Ontologie des Mediums“ Fotografie genannt habe. Eine Konkretisierung dazu könnte ein Zeitgenosse Hawthornes liefern, Oliver Wendell Holmes, der, in einem 1859 veröffentlichten Text über Stereoskop und Stereograph, neben technischen Erläuterungen folgende medientheoretische Spekulation festhielt: „(The Daguerrotype) has fixed the most fleeting of our illusions, that which the apostle and the philosopher and the poet have alike used as the type of instability and unreality. The photograph has completed the triumph, by making a sheet of paper reflect images like a mirror and hold them as a picture (…).“ Noch deutlicher: „Extremes meet. Every given point of the picture is as far from the truth as a lie can be. But in travelling away from the pattern it has gone round a complete circle, and is at once as remote from Nature and as near it as possible.“ Es geht ihm um nichts weniger als um den trivial erscheinenden, aber ontologisch entscheidenden Umstand des Wechsels zwischen drei- und zweidimensionalem „Raum“ (der meistens hinter der allzu verführerischen Ähnlichkeit zwischen Foto und Wirklichkeit übersehen wird): „Form is henceforth divorced from matter. (…) the greatest of human triumphs over earthly conditions, the divorce of form and substance.“ Der reale Raum wird in der Tat durch den Apparat und seine optischen Bedingungen in einen fotografischen (Bild-) Raum transformiert, der jenem zwar äußerlich sehr ähnlich, aber durchaus nicht identisch ist, und der anderen, eigenen Gesetzen und Regeln gehorcht. (Die Figuren, die diesen neuen Raum bewohnen, könnte man entsprechend als „Lichtformen“, als „luminöse Gestalten“ fassen, um zwei Begriffe bei dem Medientheoretiker Marc Ries zu borgen).
Möglicherweise sind es jedenfalls genau diese Grundbedingungen der Photographie, die Ursula Paletta in ihren Bildern auf planvolle Weise so stark verdichtet, bis sie zur Sichtbarkeit umschlagen und selbst zum Bildinhalt werden können.
Überlegungen dieser Art mögen auch zum Verständnis beitragen, warum und auf welche Weise die ProtagonistInnen in Palettas Bildern stets derart flüchtig wirken. Meist von der Kamera abgewandt (und offensichtlich mehr mit dem Raum befasst als mit dem Betrachter), isoliert und stillgestellt, wie eingefroren, erscheinen sie ebenso anwesend wie abwesend: optisch unleugbar vorhanden (oft sogar mit einer fast skulptural wirkenden Präsenz), aber gleichzeitig keinesfalls von ihrer Ebene auf die des Betrachters herunterzurechnen. Tatsächlich sind sie wohl – nach Abzug einer kompletten Dimension – nicht zuletzt kompositorischen Überlegungen geschuldet, und haben ihre Funktion neben und in dem jeweiligen Raum mit seinen Details, dem Licht, den Farben, den Linien, der ganzen fast malerischen Anmutung; letztlich Stilleben, zwar mit Personnage, aber dennoch irgendwo nature morte. Das Ungreif- und Unnahbare, das Palettas Personen eignet, lässt auch einen Kurzschluß mit Walter Benjamins Begriff der Aura zu, von welcher er bekanntlich befürchtete, sie sei im Zeitalter der technischen (photographischen) Reproduzierbarkeit von Kunstwerken vom Zerfall bedroht. Daß die Arbeiten von Ursula Paletta – ausgerechnet Photographien – in höchstem Maße gesättigt sind mit genau jener „Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ (so Benjamins Definition der Aura) entbehrt nicht der Ironie. (Der Bildtitel „in der Ferne, so nah“ ließe sich sehr direkt in diese Richtung lesen…)
An anderer Stelle bringt Benjamin gegen diesen Begriff der Aura jenen der Spur in Anschlag: „Die Spur ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ“ (was wieder der konventionellen Lesart von Photographie entspräche). Spur und Aura verhalten sich demnach auch in rezeptionsästhetischer Sicht diametral: „In der Spur werden wir der Sache habhaft, in der Aura bemächtigt sie sich unser.“ Selbst dieser Aspekt lässt sich auf Palettas Arbeiten anwenden: denn auch wenn man sich als Betrachter zum einen natürlich bewusst auf bestimmte Details einlassen kann, haben die Bilder insgesamt jedoch vielmehr die Tendenz, den Betrachter hineinzuziehen in die andere Wirklichkeit dieses irrealen Lichtraums. Ob man dort wirklich hinwill, ist dann die nächste Frage. Der Song „Hope there’s someone“ von Antony and the Johnsons, dem dieser Katalog seinen Titel „There’s a ghost on the horizon“ verdankt, könnte jedenfalls über Strecken genau von jenem Ort und seinen luminösen Bewohnern handeln – und von dem Wunsch, dort nicht zu sein (Antony Hegartys Stimme klingt in diesem Song übrigens, als wüsste er genau, wovon er spricht, ja, als sänge er genau von diesem Ort aus): „Oh I’m scared of the middle place / Between light and nowhere / I don’t want to be the one / Left in there, left in there (…) So here’s hoping I will not drown / Or paralyze in light“.
Peter T. Lenhart, 2007.